19. Dezember 2020
Städteplaner Christoph Kohl im Gespräch mit Andreas Raffeiner
Seit drei Jahrzehnten lebt der 1961 in Bozen geborene Architekt und Städteplaner Christoph Kohl in Berlin. Im Gespräch mit Andreas Raffeiner berichtet er über persönliche Werte, die sich aus dem Begriffspaar Stadtbau und Architektur entwickeln, die oftmals und für einige unerreichbare Maxime „schneller, höher, weiter“ in seinem Berufsbild, die „Alpitecture“ in Südtirol, die Symbiose aus Berliner Schnauze und Tiroler Sturschädel und vieles mehr.
ANDREAS RAFFEINER „Herr Kohl, gestatten Sie eine etwas knifflige, zweiteilige Einstiegsfrage zu Beginn, gepaart mit einem Versuch einer Feststellung: Was kann Architektur, und was leistet Städtebau, wenn man sich vor Augen hält, dass zu viele Köche (Architekten) den Brei (die Stadt) verderben?“
CHRISTOPH KOHL „Die Architektur die Mutter aller Künste, so Vitruv. Nach ihm beruht sie auf den drei Prinzipien Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Anmut). An dieser Definition wird sich nichts ändern. Allerdings sollte sich die Allgemeinheit – damit meine ich im Besonderen die Politik – diese Stellung der Architektur viel bewusster machen. In unserer bildgetriebenen Welt wird Architektur als etwas sehr Äußerliches wahrgenommen: quasi als Tapete und somit als letztlich Unverbindliches, Beliebiges. Selbst in Fachgesprächen, unter Kollegen und Lehrenden, wird zumeist etwas hilflos in den Kategorien „Gefällt mir – gefällt mir nicht“ argumentiert. So, als ob es sich um Autofelgen handelt. Diese Oberflächlichkeit ist der Architektur zuerst mit dem Vordringen des „International Style“, dann mit der fortschreitenden Globalisierung zum Verhängnis geworden.“
Kann man ein Konglomerat aus Städtebau, Architektur und Stadtentwicklungsplanung entwickeln, ohne die persönlichen Ideale zu verraten?
Die Architektenschaft hat sich in der Alltagsrealität unserer Gesellschaft weltweit eine Rolle als Dekorateur erarbeitet und damit eine Statistenrolle eingenommen. Nun stehen all diese „Dekorationen“ (darunter auch die meinen) mal besser, mal schlechter da und warten geduldig darauf, dass sie, einhergehend mit ihrer wirtschaftlichen Abschreibung und vorausberechnetem Wertverlust schließlich Platz machen für neue Investitionen. Ein persönliches Ideal kann man dann nur verfolgen, indem man Veränderungen – damit meine ich zwingend Verbesserungen – als „Trojaner“ zu implementieren versucht – quasi am Gesetz, an der Öffentlichkeit, an der Auftraggeberschaft vorbei.
Welche Charaktere werden in Zukunft für einen Architekten oder einen Städteplaner noch wichtiger sein als heute? Aus welchem Grund sind das Schärfen eines Gedankens und das Schaffen von Lösungen für Menschen die Kerneigenschaften für den Architekten, wenn er mehr nach Anhaltspunkten und Orientierung sucht?
Unser Schaffen ist noch immer vom Mythos des Aufbauens bestimmt. Die Weltkriege haben im wahrsten Sinne des Wortes so viele Schäden hinterlassen, dass wir immer noch unsere Aufgabe in deren Beseitigung sehen. Leider haben wir nur zu spät bemerkt, dass wir bei diesen Aufräum- und Reparaturarbeiten letztlich mehr zerstört als Bleibendes geschaffen haben. Mir persönlich ist diese Erkenntnis immer dann besonders peinlich, wenn ich vor meinen internationalen Studenten (zumeist aus Schwellenländern) stehe, und dann lehren soll wie man es (in Europa) richtig macht. Dieses „Richtigmachen“ – DIN-Normen kennen, Ausführungs- und Verfahrensvorschriften interpretieren können, Verordnungen umzusetzen wissen – das darf man im Grunde nicht mehr lehren. Ich lasse die Studenten darum in die Geschichte zurückblicken, um Parallelen aufzuzeigen, auch, welche gesellschaftlichen und architektonischen Welten entstanden und wieder untergegangen sind.
Wenn man sich mit Ihren Bauwerken und Ihren Visionen auseinandersetzt, erkennt man den Hang zu einer wertkonservativen Tradition. Hat die Maxime „höher, schneller, weiter“ in der Architekturszene ausgedient, oder weshalb ist es in Ihrem Arbeitsumfeld wichtig, trotz aller materialistischen Gedankenspiele das Bewährte? Inwiefern dürfen couragierte Improvisationen im Gleichklang mit menschenwürdigen Lebensräumen und das Verschmelzen planerischer Disziplinen zu einer Einheit keine leeren Phrasen bleiben?
Das Bewährte ist das Beständige. Und es ist zugleich das evolutionäre Element. Frei nach Darwin: „Survival of the fittest“. Es kann nur so sein, dass das Bewährte weitergegeben, tra-diert, und somit Tradition wird. Dieses Prinzip, das Beste stetig verbessern zu wollen, es zur Meisterschaft zu bringen, ist ein sehr anspruchsvolles. Die Moderne negiert dieses Prinzip. Stattdessen wird formal experimentiert. Die Lehre war in den letzten 25 Jahren recht einfach: „Fuck the Context“, „Wissen ist eine Bürde“, „Erfinde(t) alles neu“.
Offenkundig ist: Weder die gebaute Umwelt, noch die Welt an und für sich wurde dadurch verbessert. In der Regel sind dann Bewohner und Benutzer zur „couragierten Improvisation“ gezwungen. Und beim Städtetourismus, in historischen, über Jahrhunderte gewachsenen Altstädten, können sich die, die es sich leisten können, dann von ihrer gebauten Alltagswelt erholen.
Warum ist, wenn man sich die Materialisierung der Stadt vor Augen hält, die politische Dimension von entscheidender Tragweite, und weshalb muss man stets an der physischen Realität und an der Ästhetik arbeiten? Ist es ein Irrtum zu glauben, dass diese Punkte für unser Wahrnehmen bedeutungsvoll sind und keiner in der Lage sein soll, wirtschaftliche Mechanismen schlicht und ergreifend auszuhebeln?
Hierauf möchte ich mit einem Bild aus unserer Heimat antworten: Stellen Sie sich ein „Alpen-Panorama“ vor, das zur Zierde der gebauten Umwelt gereicht: Die Feldsteine auf den auskragenden Satteldächern, zur Beschwerung und dadurch Sicherung der Schindeldeckung, einen präzisen funktionalen Zweck erfüllend – das empfindet unser Auge als schön. Der umzäunte Bauerngarten mit blühenden, von Bienen umschwärmten Nutzpflanzen, die schmückenden Geranien in den Trögen vor den gerahmten Fenstern, das gemauerte Sockelgeschoss des Bauernhauses – der Viehstall – aus dem die wärmende Luft nach oben steigt, zur Behausung der Menschen, und zuoberst, im Dachboden, Heu und Stroh als Futtervorrat und als Dämmmaterial: inhaltlich und äußerlich schön. Perfekt! Schönheit ist schlichtweg eine wesentliche Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Schönes wird bewahrt, repariert, instandgehalten. Oder warum glauben Sie, dass die Lauben in den Südtiroler Städten eine eigene, hochgeschätzte Typologie bilden?
Sie sagten einmal, dass man als Architekt ein Moderator zwischen Baukunst, menschlichen Bedürfnissen, sozialen Bedingungen und gesellschaftlicher Übereinkunft bleiben soll und sehen das Ganze als eine Sisyphos-Aufgabe an. Können Sie bitte das Gesagte für einen Laien in einfache Worte kleiden?
Dem Architekten wurde durch die Moderne eine Schöpferrolle angedichtet (die ich nur vereinzelten Genies zugestehe). Der Beruf des Architekten ist zwar durchaus ein angesehener, er wird aber beileibe nicht mit dem eines Mediziners verglichen, indem auch er für medizinisch und gesellschaftlich gesunde Lebensverhältnisse Sorge trägt. Das umfasst Umweltwissenschaften, Bautechnik, Soziologie. Deswegen finde ich die Rolle als Stadtplaner auch befriedigender, weil sich dieser als Moderator von gesellschaftlichen Prozessen profilieren kann und nicht vordergründig als Gestalter von gebauten Unikaten.
Was ist aus der „Alpitecture“, der Südtiroler Plattform für Alpen, Technologie und Architektur, geworden? Seit fünf Jahren ist es um das innovative Know-how und den Katalysator für neue Aufgabenstellungen in der hiesigen Baukultur still geworden. Was muss getan werden, um der globalen Architekturplattform, die als Synergien nutzende Vernetzung produzierender Unternehmen anzusehen ist, wieder ein bisschen Leben einzuhauchen, aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und den Stammplatz in der heimischen Architekturwelt zu sichern? Finden Sie diesem Umstand traurig, oder möchten Sie einen Appell an die lokalen Politiker richten, die Wertschöpfung und den Mehrwert der Südtiroler Architekturszene zu erkennen und dementsprechend zu fördern?
Ich bedaure es als Auslandssüdtiroler sehr, dass diese Initiative einschlief. Es war richtig und sehr wichtig, dass gute, sehenswerte und erlebenswerte Architektur mit zu den offiziellen Aushängeschildern unseres vorbildlich gepflegten Landes gehört, nicht nur Äpfel und Trauben. Den Verzicht auf eine daraufhin ausgerichtete Präsenz von Südtirol auf der ITB, konnte ich angesichts des Phänomens Overtourism nachvollziehen. Dass es nach einigen wenigen Jahren keinen Südtirol-Stand auf der Immobilienmesse Expo Real in München mehr gibt, stufe ich hingegen auch als Verlust für die internationale Wahrnehmung von Südtirol ein.
Die Trias aus Wirtschaft, Kultur und Tourismus fand ich besonders interessant, denn gerade vor dem Hintergrund Südtirols lässt sich die hochkarätige Symbiose aus Kulturlandschaft, Kulturtechnik und Kulturförderung darstellen. Angewandte Architektur gewinnt im besonderen Maße an Qualität, wenn sie in ihrer Wahrnehmung öffentlich gefördert wird. Man kann sich nicht Jahrzehnte auf Burgen und Schlössern ausruhen, herausragende zeitgenössische Architektur sollte zur Marke Südtirol unbedingt dazugehören.
Schöne Städte sind und waren immer nachhaltig, denn sie sind von zeitloser und anspruchsloser Architektur geprägt. Herr Kohl, was macht, wenn Sie in sich gehen, eine schöne Stadt aus, und warum ist es von essentieller Bedeutung, dass dadurch das städtische Leben auch ein gutes Leben werden kann?
Nachhaltigkeit, die auf Schönheit und Zeitlosigkeit beruht, genügt höchsten Ansprüchen. Architekturgeschichte war natürlich auch immer von Moden geprägt. Wir nennen sie Stile, weil sie manchmal Jahrhunderte andauerten und Zeit zur Reife hatten. Historische Städte und ihre Bauten waren immer großzügig. Wie sonst wäre es möglich, dass wir heute mit Vorliebe im Altbau wohnen und arbeiten? Wo findet kontinuierlich größte Wertsteigerung statt? Ebenfalls in der Altbausubstanz. Kein ausgeklügelt designtes modulares System hat es geschafft, hier ein Äquivalent zu schaffen. Ich will nicht der Opulenz das Wort reden, aber heute herrscht Zeitgeistigkeit vor, und die ist von Kleinlichkeit, als Wirtschaftlichkeit getarnt, geprägt.
Ich plädiere für Beständigkeit, den Modebegriff Nachhaltigkeit – der übrigens aus der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts stammt – lehne ich ab. Bezogen aufs Bauen besagt er im Grunde, dass, wenn die Summe aller eingesetzten Ressourcen zum Errichten, Betreiben und Abriss (sprich Recycling) einer Immobilie „Null“ ist, dann sei das nachhaltig. Das bedeutet im Klartext, dass wir nichts Bleibendes hinterlassen dürften. Unter ästhetischen Gesichtspunkten mag das manchmal durchaus wünschenswert sein. Aber stellen Sie sich vor, unsere Ahnen hätten so räsoniert!
Wie stehen Sie zur Verbindung zwischen Moral und Ästhetik, wenn wir ein Signum von einer von Gott gewollten Ordnung ins Spiel bringen? Kann es ein Ziel eines Architekten oder Bauplaners sein, die Menschheit sowohl ästhetisch als auch gestalterisch zur Kultur des Bauens an der Hand zu führen, oder ist es Ihrer Meinung nach zu blauäugig, wenn man glaubt, dass der Funktionalismus ökonomischer Prägung weiterhin lohnende Investitionen mit sich bringt?
Es ist der Mensch, der nach Ordnung im offensichtlichen Chaos der Schöpfung sucht. Architektur und Städtebau sind nach der Kunst der probateste Versuch, sich die Welt Untertan zu machen. Dass der Preis für die Ausbeutung des Globus hoch ist, ahnen wir heute nicht mehr nur, wir beginnen gerade zu sehen, wohin uns der Verzicht auf Kreislaufzyklen führen kann. Als noch die Natur durch die beschränkte Verfügbarkeit von Baumaterial Richtung und Ton angab, war ästhetische Führung nicht so maßgebend. Führung kann zwar auch ins Negative führen, aber kulturhistorisch gehören jene Städte und Landstriche zu den schönsten, denen ein gestaltender Wille, ein einheitliches Verständnis für einen langen Zeitabschnitt ihren Stempel aufgedrückt hat.
Seit gut 30 Jahren leben und arbeiten Sie in Berlin. Jeder hat ein eigenes Bild von der deutschen Hauptstadt. So wird der Einwohner mal selbstüberschätzt, aber meistens selten greifbar charakterisiert. Auch hört man oft, dass er eine große Schnauze und ein noch größeres Herz besitzt. Nicht selten herrscht des Öfteren ein leichter Antagonismus zwischen ehrlicher Fürsorge und Oberflächlichkeit. Der Tiroler hingegen ist bekannt durch seinen Sturschädel und seine Traditionsverbundenheit. Was können abschließend die Berliner von den Tirolern lernen können und umgekehrt?
Berlin ist ein wunderbarer Ort, weil er der die fremdenfreundlichste ist, die ich je kennen gelernt habe. Anders die politische Landschaft: Der rot-rot-grüne Senat sieht Investoren wortwörtlich als „Kapital“-Verbrecher an; man behauptet allen Ernstes, dass weniger Neubau zu niedrigeren Mieten führt. Hier sehe ich mich als Architekt dann notgedrungen oft auf der dunklen Seite der Macht. Mancher Berliner aber hat schon von meinem Tiroler Dickkopf profitiert, ebenso von meiner Suche nach der besten und sichersten Route auf den Gipfel. Und von dort hat frau und man dann auch den gehörigen Weitblick.
Dieses Interview erschien in der Dezember-Ausgabe 2020 der Zeitschrift „Die Südtirolerin“