Fanal für den Aufbau Ost

von Günter Schenke

Kirchsteigfeld sollte Turm erhalten / Von geplanten 200 000 Quadratmetern Gewerbe nicht einer gebaut.

„Wenn wir schon das größte Neubaugebiet in den neuen Bundesländern hinstellen, dann sollte es auch zu sehen sein.“ So mögen die Erbauer des Kirchsteigfeldes gedacht haben, als sie 1993 für ihr Projekt auf der grünen Wiese ein hundert Meter hohes Turm-Hochhaus planten.

Klaus Groth, Chef der Wohnbau GmbH, die den Bau des Kirchsteigfeldes organisierte, war mehr als ein berechnender Manager. Er hatte Sendungsbewusstsein. Er wollte nicht nur ein Wohngebiet, das alle Ansprüche an individuelles Wohnen erfüllte, errichten – sondern dazu alles, was zum Leben gehört: Arbeitsplätze, Kindertagesstätten, Schulen, Sportmöglichkeiten eine Stadtteilbibliothek und eine Kirche. Er befand sich damit unbewusst im Fahrwasser der Wohnungsbaupolitik DDR. In einem Plattenbau-Stadtteil wie dem benachbarten Stern musste auch alles vorhanden sein. Sogar eine Kirche ließen die DDR-Oberen bauen.

Eine städtebaulichen Turm-Dominante im Kirchsteigfeld wäre das zu Stein gewordene Fanal für die „ideale Stadt“, wie sie der Architekt Rob Krier mit dem Kirchsteigfeld wollte. Der Turm, ein futuristisches Bürogebäude aus Glas und Stahl unmittelbar an der Autobahn 115, wäre ein Zeichen gewesen für wirtschaftliche Prosperität.

Im Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr waren die Verantwortlichen begeistert: „Statt einer langen Fahrt zum Gewerbezentrum auf der grünen Wiese weit außerhalb der Stadt – der Arbeitsplatz gleich um die Ecke. Statt langer Wege zur Naherholung – ein Spaziergang im Park gleich nebenan. Statt einer morgendlichen Odyssee zum weit entfernten Kindergarten – ein paar Schritte um die Ecke.“ Das Konzept des Büros Krier · Kohl, als Siegerentwurf aus einem Workshop hervorgegangen, erhielt schon vor seiner Umsetzung Vorschusslorbeeren von der Wirtschaft in Form eines Preises der Deutschen Bank. In dieser neuen Stadt sollten sich laut Groth „mittelständische Firmen der sauber produzierenden Industrie, Dienstleistungsunternehmen, Interessenverbände und Vereine als Arbeitgeber ansiedeln.“

Das Symbol dieser harmonischen Entwicklung, das Hochhaus an der Autobahn, war ein im Grundriss dreieckiges Gebäude mit abgerundeten Kanten, das mit der spitzen Seite zum Wohngebiet und mit der breiten Front zur Autobahn gerichtet war. Stromlinienförmig-modern sah es aus, anders als das kleinstädtische Wohngebiet. Es sollte den Vorbeifahrenden schon von Weitem signalisieren, dass hier etwas Neues entstanden ist, dass es hier „boomt“ und vor allem dass es sich lohnt, zu investieren.

Insgesamt ergab sich für das Kirchsteigfeld nach Angaben von Groth ein Investitionsvolumen von rund zwei Milliarden Mark. Die Finanzierung der Mietwohnungen erfolgte über geschlossene Fonds. Außerdem entstanden zirka 600 Eigentumswohnungen und Reihenhäuser.

In der „Stadt der kurzen Wege“ war ein Gewerbeanteil von 200 000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche geplant, wofür der Streifen entlang der Autobahn bis zur Straßenbahntrasse vorgesehen war. Ein eigenes Quartier mit Gewerbehöfen und „baulichen Akzenten“ wie dem Bürohochhaus sowie fünf kleineren Hochhäusern sollte entstehen. Dieser Bereich sollte darüber hinaus die akustische Belastung der Autobahn vom Wohngebiet fern halten. Von dieser Vision blieb bis Ende der neunziger Jahre lediglich das Bauschild übrig. Nicht ein einziger Quadratmeter Gewerbefläche wurde gebaut. Die reale wirtschaftliche Entwicklung ließ das Projekt sterben. Der Traum vom Turm war mit dem Ausbleiben von Investoren ausgeträumt.

Dazu kam die Konkurrenz an günstigeren Standorten. So entstand in unmittelbarer Nachbarschaft des Stern-Centers mit der Stern-Plaza „das höchste Wohngefühl in Potsdam“. Wie durch ein Wunder schlüpfte das siebzig Meter hohe Gebäude mit seinen 22 Wohnetagen und 192 Apartments durch alle Klippen der Baugenehmigungen. Entworfen wurde das weit und breit höchste Wohngebäude von den Planern des Stern-Centers, dem Hamburger Büro Nietz und Partner. Das weithin sichtbare Hochhaus ist heute ein Signal für eine Prosperität anderer Art: für eines der erfolgreichsten Einkaufszentren, wenn nicht des erfolgreichsten, in den neuen Bundesländern.

Günter Schenke: Fanal für den Aufbau Ost. Potsdamer Neueste Nachrichten, 15.11.2006 (www.pnn.de).