From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin

Qualität in der Architektur – Annäherung an ein vernachlässigtes Thema.

von Kai Schuster

…Ein Beispiel aus dem Siedlungsbau soll das Spannungsfeld „Nutzerqualität – Gestaltungsqualität“ verdeutlichen: Im Kräftefeld „Erlebnis – Sicherheit“ konzentriert sich gegenwärtig die gesellschaftliche Bedürfnislage, in einer möglichst sicheren Struktur maximale Freiheiten zur Verfügung zu haben. Die Übertragung dieser Tendenz auf Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung könnte eine psychologische Erklärung für die Beliebtheit vergangener und vor allem überschaubarer, kleinräumiger „architektonischer Bühnen“ sein, die mit der Symbolik von Stabilität und Dauerhaftigkeit spielen. Natürlich dürfen diese Architekturen aber keine Übertragung des früheren Lebens nach sich ziehen, sondern ein gegenwärtiges Lebenskonzept ermöglichen. Die von verschiedenen politischen Richtungen formulierten Forderungen, den Innenstadtbereich von Frankfurt am Main vorwiegend mit Fachwerkhäusern in der Tradition des „alten“ Frankfurt zu bebauen, ist ein aktuelles Beispiel dieser Tendenz. Was in Frankfurt vorläufig wie eine populistische Anbiederung unterschiedlicher politischer Parteien an eine allgemeine konservative Grundorientierung in der Bevölkerung anmutet, wurde in der aktuellen Erweiterung der niederländischen Stadt Helmond um die Ortschaft Brandevoort (allerdings auf der grünen Wiese) umgesetzt. Im Rahmen eines Masterplans, erarbeitet vom Berliner Planungsbüro Krier/Kohl, werden dort gegenwärtig zwei- bis dreigeschossige Reihenhäuser gebaut. Die Siedlung wird von 20 Architekten entworfen und aus Stahlbeton und Fertigteilen errichtet. Vorbild für die Gesamtanlage ist das römische Castrum; die Außengestaltung der einzelnen Häuser folgt historischen Vorbildern niederländischer Kleinstädte aus dem 17./18. Jahrhundert. Die Monotonie des einheitlichen Stahlbetonskeletts wird durch unterschiedliche Brüstungs- und Traufhöhen aufgehoben. Mit dieser Fassadengestaltung wird bewusst der Eindruck historischer und individuell gebauter Häuser geweckt (s. Abbildung 2 und 3).

In dieser Siedlung ist somit beides bespielbar: Die vermeintlich heile sowie sichere Welt vergangener Zeiten außen und das moderne Leben mit allen Annehmlichkeiten und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten innen. Brandevoort spielt mit der emotionalen Symbolik der abgeschlossenen, kontrollierbaren und allen globalen Entwicklungen trutzenden, sicheren eigenen Welt. Damit trifft sie den Nerv eines beachtlichen Teils der Bevölkerung. Insofern kann Brandevoort als zielgruppengerechte Gestaltung eines Quartiers für Bevölkerungsteile mit bestimmten Wert- und Ästhetikvorlieben betrachtet werden. Sie ist ein Erfolgsmodell, weil sie Emotionen und Bedürfnisse von Bevölkerungsgruppen aufgreift und verräumlicht.

Ob sie ein atmosphärisches Vorbild sein kann, ist eine andere Frage. Als Einzelprojekt mag Brandevoort die Architektur sogar bereichern, als Standard für Neubauprojekte besitzt es deshalb wenig Vorbildqualitäten, da es die Wunschbilder einer „heimelichen“ Architektur abbildet und dabei eins zu eins auf Vergangenes rekurriert. Wenn man den Satz „Architektur bildet die ruhendste Form sozialen Lebens“ (Nadolski 2000, S. 205) ernst nimmt, ist diese Vorspielung eines Castrums zu hinterfragen – sie wirkt wie ein Trugbild von Sicherheit und Stabilität. Oder anders ausgedrückt: „Bühne“ und „Bühnenstück“ passen nicht zusammen. Sicher ist es eine schwierige Aufgabe, die genannten Qualitätsmerkmale aufzugreifen, die individuelle sowie gesellschaftliche Wertlage zu respektieren und mit innovativen Entwürfen zu kombinieren.

Die ausschließliche Ab-Bildung vergangener Schemata ist ein interessantes Experiment, an Hand dessen architektonische Qualitäten analysiert werden können. Es drängt jedoch den legitimen künstlerischen Anspruch von Architektur in den Hintergrund und hemmt einen konstruktiven und gegenwartsbezogenen Austausch zwischen Individuum, Gesellschaft und Architektur.

© Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok 01/2005, Kai Schuster.

from: Kai Schuster: Qualität in der Architektur – Annäherung an ein vernachlässigtes Thema. From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin, 10. Jg. Heft 1, September 2006.

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